Jeden Tag sehe ich Jina (Mahsa) Amini. Ich sehe sie, wenn ich zur Uni gehe, wenn ich in Cafés sitze, an der Straßenecke, im Aufzug. Ich sehe sie online: Fotos und Videos, aber auch offline in den Gesichtern von Fremden, die sie sein könnten. Junge Frauen in ihrem Alter, wie ihr, wie ich. Ich sehe sie tanzen, lächeln, sehe sie mit und ohne ihre Brille. Und ich sehe sie in der Teheraner Metro sitzen, eine Wasserflasche in der Hand. Es ist das letzte Foto von ihr. Wenig später wird sie willkürlich verhaftet, weil ihr Kopftuch in irgendeiner Weise verrutscht ist, dass es nicht mehr den misogynen Gesetzen der Islamischen Republik entspricht. Auch wenn es die Regierung bis heute dementiert, wissen wir, was im Anschluss passiert. Jina Amini wird durch die Polizei brutal geschlagen und misshandelt, fällt ins Koma und verstirbt drei Tage später in einem Krankenhaus.
Nika, Hadis, Sarina, Ghazaleh, Hananeh
Wir wissen das auch ohne eine offizielle Bestätigung durch die Behörden, weil Jina Amini kein Einzelfall ist. Wir wissen das, weil sie danach Nika getötet haben. Und Hadis. Und Sarina. Und Ghazaleh. Und Hananeh. Und so viele andere. Junge Frauen, die für ihr Recht auf Freiheit demonstrieren, die Freiheit auch nur das normalste, alltäglichste Leben führen zu können. Man kann Videos von ihnen auf Instagram und TikTok sehen, wo sie lachen, tanzen, schief singen und ihren Wunsch äußern, in einem Land aufzuwachsen, das ihnen elementare Grundrechte zugesteht.
Es gibt ein Video von Hadis, das sie auf dem Weg zu der Demonstration aufnimmt, bei der sie später getötet wird. „In ein paar Jahren, wenn Iran frei ist, werde ich froh sein, dass ich demonstrieren gegangen bin“, erzählt sie da und schickt es ihren Freund*innen via Whatsapp. Vielleicht ist es die Alltäglichkeit dieser Handlung, die das Gefühl einer solchen Nähe und Verbundenheit in mir auslöst, dass ich schreien möchte, weil Hadis Najafi niemals mit Stolz auf ihren Mut zurückblicken kann.
Was im Iran passiert, ist eine feministische Revolution. Die erste weltweit überhaupt. Die treibende Kraft hinter den Protesten sind junge Frauen, viele von ihnen nicht einmal 30. Frauen, die in einem System aufwachsen mussten, das von alten Männern erdacht ist, die sie mit Tieren gleichsetzen.
Ein System, das sie entrechtet, ihre Körper missbraucht, ihnen verbietet, öffentlich zu singen oder zu tanzen, das ihnen ihre Kinder wegnehmen kann, sie willkürlich inhaftieren kann, das sie kein normales Liebesverhältnis führen lässt, ihnen keinen Zutritt zu Sportveranstaltungen gewährt … Die Liste ist entsetzlich lang.
Ein Krieg gegen Frauen
Für die Islamische Republik ist der Krieg gegen die Frau ein Grundpfeiler ihrer Identität. Das Kopftuch ist dabei das sichtbarste Instrument dieser systematischen Unterdrückung. Schon seit Einführung des Kopftuchzwangs hat es immer wieder Proteste dagegen gegeben, auffällig ist dabei die große Solidarität zwischen den Teilnehmerinnen der Demonstrationen. Auch Frauen, die sich freiwillig für das Kopftuch entschieden haben, erheben seit den Anfangstagen der Islamischen Republik ihre Stimme in Solidarität mit ihren Schwestern und treten für die Wahlfreiheit ein. Auch sie begeben sich bei den revolutionären Demonstrationen gegenwärtig in Lebensgefahr, damit ihre Töchter eine freie Entscheidung treffen können.
Solidarität ist ein Motor der Bewegung. Am 40. Tag nach ihrem Tod nach iranischem Brauch ein besonderes Datum, weil es das Ende der Trauerzeit bedeutet, machten sich hunderttausende Menschen auf den Weg zu Jina Aminis Grab. Sie setzten sich damit über das Verbot der Regierung hinweg, die Straßen gesperrt hatte, um weiteren Demonstrationen entgegenzuwirken. Es ist, als ob sich etwas verändert hätte, die Wut und die Hoffnung der Menschen sind größer als ihre Angst. „Ihr habt euch mit der falschen Generation angelegt“, rufen die Demonstrierenden immer wieder. Und: „Wir kämpfen, wir sterben, wir holen uns Iran zurück“ Bilder von Menschenmassen, die versuchen, die Revolutionsgarden aufzuhalten, Menschen abzuführen, die Polizisten daran hindern, ihre Waffen zu ziehen, um willkürlich in die Menge zu schießen. Weil das Regime häufig falsche Krankenwagen schickt, um verletzte Demonstrierende statt ins Krankenhaus in Gefängnisse zu bringen, ist das Internet voll mit Tipps für die Erstversorgung von Verletzungen, von Platz- bis Schusswunden. Festnahmen enden in vielen Fällen tödlich, das zeigt nicht nur das Schicksal von Jina Amini.
Nika Shakarami war gerade einmal 17 Jahre alt, als sie bei den Demonstrationen verschwand, in einem letzten Telefonat gab sie an, auf der Flucht vor Sicherheitsbeamten gewesen zu sein. Ihre Leiche tauchte Tage später wieder auf. Ihr Schädel war zertrümmert. Mir wird schlecht, wenn ich mir vorstelle, was die Tage vorher passiert sein muss.
Vergewaltigung als Kriegswaffe
Das iranische Gesetz sieht für den Tatbestand Morharebe, dem „Krieg gegen Gott“ die Todesstrafe vor. Der Justizspruch kommt häufig zur Anwendung, um Regimegegner*innen, Aktivist*innen und Angehörige der LGBTQ-Community hinzurichten. Weil die Todesstrafe für Jungfrauen dem iranischen Recht zufolge unzulässig ist, werden diese unmittelbar vor ihrer Hinrichtung an Gefängniswärter zwangsverheiratet und vergewaltigt. Immer wieder ist zu hören, dass Frauen in Gefängnissen ihre Anwälte um Abtreibungspillen bitten. Vergewaltigung als Form der Kriegsführung des iranischen Regimes gegen das eigene Volk. Trotzdem reißen die Demonstrationen nicht ab, sondern werden größer und lauter.
Shirzan, sagen sie. Das heißt Löwenfrau und man sieht die Löwinnen allen voran kämpfend, wie sie ihre Kopftücher verbrennen und auf dem Konterfeit des Ayatollahs tanzen.
Die Frauen Irans haben eine Revolution begonnen und die Bevölkerung steht hinter ihnen. Sie alle haben erkannt, dass die Freiheit eines Volkes an der Freiheit der Frauen hängt. Und weil Jina Amini Kurdin war, und weil ihr Name Leben bedeutet, versammeln sich die Menschen im Iran, diesem Vielvölkerstaat, im Namen eines kurdischen Slogans, dem Slogan einer unterdrückten Minderheit: Jin, Jîyan, Azadî.
Frau, Leben, Freiheit.
Panti M. Baghbani
Panti M. Baghbani studiert und schreibt in Wien. Mit ihrem feministischen Buch „Menstruationswut” landete sie 2021 auf der Longlist des 1. Young Storyteller Awards. 2022 gewann sie die zweite Auflage des Wettbewerbs mit ihrem zweiten Buch „Weltschmerzmittel”. Unter ihrem Pseudonym kleinschreibung veröffentlicht sie feministische und antikapitalistische Texte auf Instagram.