Vor ein paar Tagen war ich in der Apotheke. Nachdem ich einen Tag lang eine zu enge Hose getragen hatte, war das Klima da unten etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Um die Bakterielle Vaginose und damit das Brennen und Jucken loszuwerden reichte mir die Apothekerin ein kleines Döschen, in dem sich Kapseln mit Milchsäurebakterien befanden. “Die führen Sie vor dem Schlafengehen in Ihre …”, sie räusperte sich, dann schaute sie schnell nach links und rechts als wollte sie die Umgebung eines Kriegsgebiets sichern. Nach einem erneuten Räuspern beugte sie sich zu mir vor und flüsterte: “SCHEIDE (!), die führen Sie dann in Ihre Scheide ein.”
Es war wie einem Harry-Potter-Film, wenn von Lord Voldemort die Rede ist. Den Namen Voldemorts auszusprechen löst in Harrys Welt nämlich bei allen enorme Angst aus, was sicher auch mit seinen grausamen Taten zu tun hat. Also sagt man besser “Du weißt schon wer” oder “Er, dessen Namen nicht genannt werden darf”.
Dass Ähnliches für die Bezeichnung des weiblichen* Sexualorgans gilt, ist in unserer Gesellschaft ein ungeschriebenes Gesetz.
Scheide, Vagina, Loch
Scheide. Das Wort hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Es ist mit ziemlicher Sicherheit das erste Wort, das ich für mein eigenes Genital kannte.
S-C-H-E-I-D-E. Rückblickend finde ich das schrecklich. Natürlich könnte man meinen, dass Scheide immer noch besser ist als Lulu, Mumu, Ritze oder was Kindern und jungen Erwachsenen sonst noch so beigebracht wird. Jein, das stimmt nicht wirklich.
Das Wort Scheide hat seinen Ursprung in der Degen- bzw. Schwertscheide. Also jenem Behältnis, in welches ein Degen oder Schwert gesteckt wird. Das weibliche* Genital wird damit sprachlich zum Schwert- bzw. Penishalter. Und was ist schon ein Ritter mit Scheide, aber ohne Schwert?
Das lateinische Äquivalent ist übrigens das Wort Vagina. Klingt zwar besser, aber die Problematik bleibt die gleiche.
Vagina ist heute, sowohl der meist verwendete, als auch meist missverendete Begriff für das weibliche* Geschlechtsorgan.
Viele Menschen benutzen das Wort Vagina nämlich als Synonym für die Gesamtheit des weiblichen* Geschlechtsorgans, obwohl sich das Wort Vagina (genauso wie Scheide) nur auf den innen liegenden schlauchförmigen Teil bezieht. Beide Begriffe beziehen sich also ausschließlich auf das Loch.
Wer Vulva meint, muss Vulva sagen
Korrekt und sinnrichtig, wie zum Beispiel von der Apothekerin verwendet, ist weder gegen das Wort Scheide, noch gegen das Wort Vagina etwas einzuwenden. Spricht man aber über das, was man sieht, wenn man sich einen Spiegel zwischen die Beine hält (please just do it), sollte man den Begriff Vulva verwenden. Vulva und Vagina sind nämlich nicht dasselbe. Die Vulva besteht aus dem Venushügel, den äußeren und inneren Vulvalippen, der Klitoriseichel, der Klitorisvorhaut, dem Scheidenvorhof, der Öffnung der Harnröhre und dem Damm.
Nun wird es Leute geben die sich über diese vermeintliche Wortklauberei empören: Papperlapapp, Vagina oder Vulva – macht doch keinen Unterschied!
Dann drehen wir das Ganze doch mal um: Papperlapapp, Penis oder Hoden – das macht doch keinen Unterschied!
Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird einiges offensichtlich.
Niemand würde auf die Idee kommen, die beiden Bezeichnungen für unterschiedliche Teile des männlichen Genitals zu verwechseln oder als Synonyme zu benutzen.
Ist doch klar, möchte Mann vielleicht meinen, Penis und Hoden sehen doch ganz unterschiedlich aus und haben ganz verschiedene Funktionen. Richtig! So ist es aber auch bei Vulva und Vagina. Die Vulva ist ziemlich offensichtlich nicht schlauchförmig und die Vagina ist offensichtlich weder vulvaförmig, noch ist sie so sensibel und empfindsam wie die Vulva. Genauso wie Penis und Hoden, haben beide ganz verschiedene Funktionen.
Warum passiert diese Verwechslung dann genau beim weiblichen* Genital? Man stelle sich vor in unserer Gesellschaft würden ständig Hoden und Penis verwechselt oder als Synonyme benutzt. Würden wir das genauso ok und unproblematisch finden, wie die Vulva-Vagina-Thematik?
Wahrscheinlich nicht.
Eine Tabuisierung mit patriarchaler Agenda
Dass in unserer Gesellschaft fast ausschließlich das Wort Vagina benutzt wird, ist kein Zufall. Es liegt vor allem daran, dass sich die patriarchalisch geprägte Gesellschaft nicht unbedingt für weibliche* Lust interessiert oder diese sogar fürchtet.
Während die Vulva noch in der Antike, im alten Ägypten und vielen indigenen Kulturen der Frühzeit die Vulva als Wiege des Lebens verehrt wurde, wurde dies über die letzten 2000 Jahre hinweg ins Gegenteil verkehrt.
Die Vulva wurde zum Opfer patriarchaler Macht- und Überlegenheitsansprüche. Sigmund Freud verhöhnte das weibliche* Geschlechtsteil und insbesondere den klitoralen Orgasmus. Auch mit seiner These über den Penisneid, der darauf basiert das Männliche als normal und alles andere als defizitär zu erachten, hat Freud seinen Teil zum phallozentrischen bzw. peniszentrierten Denken geleistet. Auch Philosoph Jean-Paul Sartre zeigt sich bezüglich des weiblichen Geschlechts als bemerkenswert unaufgeklärt. Für ihn war das weibliche Geschlecht ein Nichts, das gefüllt werden möchte. In seinem Buch „Das Sein und das Nichts“ heißt es: „Das Sexualorgan ist vor allem ein Loch.”
Bis heute steht der heterosexuelle Mann im Zentrum der Sexualität und Lust.
Das Wort Vagina, anstatt Vulva zu verwenden, ist weder eine harmlose sprachliche Eigenart noch eine unglückliche Verwechslung.
Die Vagina ist essenziell für Penis-in-Vagina-Sex und die Geburt. Die Vulva hingegen ist immer noch ein Tabu, weil sie für Lust steht. Nur das Wort Vagina zu verwenden ist eine kalkulierte Technik, um die sexuelle Selbstbestimmtheit der Frau* einzuschränken, denn dabei verleugnen wir genau den Teil des weiblichen* Körpers der für Lust und Penis-unabhänige weibliche* Sexualität seht.
Das Wort Vulva nicht zu benutzen hat also schwerwiegenden Konsequenzen. Psychologin Harriet Lerner spricht sogar von “psychic genital mutilation.” Was nicht benannt werden kann, existiert nicht. Darum ist es umso wichtiger, dass wir die korrekten Begriffe verstehen und sie auch verwenden. Sagen wir Vulva, wenn wir Vulva meinen. Und das möglichst oft und möglichst laut.
Quellen und Leseempfehlungen
Bücher:
“Der Ursprung der Welt” von Liv Strömquist
“Vagina Bible” von Jennifer Gunter
“A Celebration of Vulva Diversity” von Hilde Atalanta
Artikel:
https://www.thefemalecompany.com/magazin/vulva-vagina-der-unterschied/
https://www.instagram.com/the.vulva.gallery/
https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/feb/12/external-female-genitalia-vulva-vagina-sexual-agency