„Die Scham ist vorbei!“ – Ist sie das?
Schamlippen. So werden sie von den meisten genannt, die Lippen im Genitalbereich einer Frau*. Oder wie der Duden so schön beschreibt: „Die wulstige Hautfalte des äußeren weiblichen Geschlechtsorgans.“ Synonyme gibt Professor Google kaum her. Außer natürlich die lateinische Bezeichnung Labium pudendum. Labium steht für Lippe, pudendum für „sich schämen“.
Als Sexualpädagogin ist mir die sensible Wahl von Begriffen wichtig. Ich spreche während meiner Workshops mit Kindern und Jugendlichen offen über Sexualität, Hygiene, Genitalien, Gefühle und vieles mehr. In diesem Kontext die passenden Wörter zu verwenden, ist sehr wichtig, denn es geht darum, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, den eigenen Körper kennenzulernen. Das gelingt nur, wenn sie auch wissen, welche Bezeichnungen es für die unterschiedlichen Körperstellen gibt.
Wenn ich mit einer Gruppe an Mädchen* das weibliche Geschlechtsorgan bespreche, gibt es immer mehrere Aha-Erlebnisse bei den Mädchen*, die ich anhand ihrer Reaktionen erkennen kann:
Vulva und Vagina ist nicht dasselbe?
Richtig! Die Vulva ist nämlich das äußere Geschlechtsorgan, die Vagina das innere. Manche nennen die Vagina auch Loch oder Schlauch. Das finde ich ungefähr genauso passend wie Schamlippen. Aber natürlich gibt es noch viele weitere Begriffe für das weibliche Geschlecht.
Mädchen* dürfen sich selbst am Genital berühren?
Auch das ist für viele Mädchen* nicht selbstverständlich! So berichten einige Mädchen* in den Workshops, dass sie sich selbst grauslich finden und „da“ nicht hingreifen wollen. Das fängt schon früh an und äußert sich in den Workshops beispielsweise bei der Frage, was sie tun können, wenn das Schnürchen beim Tampon reißt. Für manche Mädchen* erscheint es logischer, mit einer Pinzette in die Vagina zu fahren, um das Tampon heraus zu holen (und so mögliche Verletzungen zu riskieren), als die eigenen Finger zu verwenden. Zu oft haben sie in ihrem Heranwachsen Sätze wie „Da darfst du nicht hingreifen.“ oder „Gib die Finger da weg.“ zu hören bekommen.
Da. Was ist dieses „da“? Wo ist das „da“? Es herrscht immer noch eine große Sprachlosigkeit, wenn es um das weibliche Geschlecht geht.
Sprache ist wichtig. Die richtige Wortwahl ist wichtig. Denn: Solange wir von Schamlippen und Löchern reden, brauchen wir uns wirklich nicht wundern, dass Kinder und Jugendliche und später Erwachsene keinen offenen und wertschätzenden Zugang zu ihrem eigenen Geschlecht haben.
Wer von großen und kleinen Schamlippen spricht, sorgt für weitere Verwirrung. Denn Vulven schauen so unterschiedlich aus wie jeder Mensch anders aussieht. Und wenn ein Mädchen* bemerkt, dass ihre vermeintlichen kleinen „Scham“lippen größer sind als ihre sogenannten großen Lippen, kann das schon ordentlich verwirrend sein.
Schamlippen, Schambehaarung, Schambein… Klar, das Wort „Scham“ ist ein Synonym für Geschlechtsorgan. Es steht aber auch für Sittlichkeit, Schande und Scheu. Und diese Begriffe sollten nun wirklich nichts mit dem Geschlecht zu tun haben, oder? Einem Teil, der zu jedem Menschen dazu gehört – wie auch immer es ausgeprägt sein mag.
„Die Scham ist vorbei!“ hieß es schon in der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre. Der sogenannten „sexuellen Revolution“. Ging es damals um die sexuelle Befreiung der Frau und um ein Bekenntnis zum eigenen Körper und einer Auseinandersetzung mit sich selbst, geht es heute… Nun ja… Um genau dasselbe, wenn auch in anderen Ausprägungen. Es hat sich einiges verändert seit den 1970er Jahren. Frauen müssen sich in Österreich meistens nicht mehr verstecken und ihre Sexualität zurück halten. Von einem gesunden, offenen und schamfreien Umgang mit dem eigenen Körper sind wir aber leider noch entfernt. Das zeigen auch Phänomene wie Bodyshaming, Slutshaming, frauenfeindliche Reaktionen auf #metoo, Instagramhypes wie der Tighgap, die Bikinibridge und wie sie alle heißen und so weiter.
Die Scham ist leider noch lange nicht vorbei. Dabei hat sie am weiblichen* Körper nichts zu suchen. Und am männlichen* auch nicht! Denn sexuelle Scham ist nichts Natürliches, sondern kulturell bedingt. Und veränderbar.
Veränderungen beginnen mit der Sprache. Deshalb reden wir doch lieber von Intimbehaarung. Von inneren und äußeren Lippen, Intimlippen, Venuslippen oder Labien – oder wir kreieren gleich ein ganz neues Wort für diese charmanten Lippen. 😉
Viva La Vulva Gastautorin
Cornelia Lindner
Cornelia Lindner hat Soziale Arbeit studiert und ist Sexualpädagogin und Sexualberaterin in Wien. Derzeit studiert sie Gender Studies an der Uni Wien.
Mit ihrem Projekt gefühls*echt setzt sie sich für einen unaufgeregten Zugang zu sexueller Bildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein. Sie bietet Workshops an Schulen und in Jugendgruppen an, ist aber auch eine Ansprechperson für Erwachsene, die Fragen zur eigenen Sexualität oder zu sexueller Bildung von Kindern und Jugendlichen haben.
Ihr Wunsch ist es, Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigenen Bedürfnisse und den eigenen Körper kennen zu lernen.
Nähere Infos: www.gefuehlsecht.at